Amélie Stauffer M28b
Seit eineinhalb Stunden sitzt Nele konzentriert auf dem Co-Pilotensitz und wechselt ab und zu ihren Blick zwischen den Instrumenten und dem Fenster. Ausserhalb der Boeing 737 herrscht Dunkelheit. Der Kapitän blickt auf und sieht sie an.
«Es könnte beim Landen zu Komplikationen kommen. Ein Gewitter ist unerwartet aufgetaucht», sagt er.
«Was wäre unser Notfall-Landeplatz?», fragt Nele.
Sie bekommt keine Antwort, denn in diesem Moment schwankt das Flugzeug stärker als üblich. Einer der Bildschirme blinkt auf.
«Etwas stimmt mit dem rechten Triebwerk nicht», sagt der Kapitän.
«Möglicherweise ein Fremdkörper, der das Triebwerk beschädigt hat.»
«Das linke funktioniert noch?»
«Ja, aber der Funk ist ausgefallen», sagt Nele mit einem leichten Zittern in der Stimme.
«Das muss am schlechten Wetter liegen. Wir bleiben auf Kurs. Wir sollten bald wieder ein Signal bekommen.»
Eine Viertelstunde später hat immer noch niemand auf ihren Funkversuch geantwortet.
«Meine Güte, das linke Triebwerk hat keinen Schub mehr. Wir müssen notlanden», sagt der Kapitän, diesmal mit einem besorgten Unterton.
«Aber wo? Wir sind mitten über dem Meer!». In diesem Moment erinnert sich Nele an die lebhafte Diskussion, die sie vor zwei Stunden mit ihren Eltern geführt hat. Es ging mal wieder um ihre Berufswahl, die laut ihren Eltern nichts für Frauen sei. Sie hörte noch immer die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, die sagt: «Wie kann man nur so lebensmüde sein und sich freiwillig tausende von Metern hoch in die Luft begeben? Haben dein Vater und ich dich wirklich so erzogen, dass du keinen Funken normalen Menschenverstand hast?» Nele schüttelte den Kopf, um die Stimme ihrer Mutter loszuwerden, und atmet tief ein. Das Flugzeug fällt weiterhin.
«Wir müssen ruhig bleiben. Auch ohne Triebwerke können wir noch einige Kilometer fliegen», sagt der Kapitän. Seine ruhige Ausstrahlung ist nur eine Fassade. Innerlich denkt er: Okay, okay, ganz ruhig. Ich werde heute nicht sterben. Ich werde nicht der Grund sein, dass so viele Familien eine geliebte Person verlieren. Nicht heute, und nicht wegen mir.
Der Kapitän wirft einen Blick auf die Instrumente und überlegt, was zu tun ist. «Wir bleiben auf Kurs. Der nächste Flughafen sollte in etwa 250 km sichtbar werden, dann können wir versuchen, dort zu landen.»
«Hoffen wir, dass das Wetter nicht schlimmer wird», sagt Nele zögerlich.
Kaum ausgesprochen, schwankt das Flugzeug erneut heftig, und die Lichter flackern. Das Flugzeug fällt schneller.
Die Purserette klingelt an der Cockpittüre und öffnet sie mit mehr Wucht als nötig.
«Wieso fallen wir?», fragt sie aufgebracht.
«Die beide Triebwerke sind beschädigt und wegen dieses unberechenbaren Sturms fallen wir schneller als gewöhnlich.» erklärt der Kapitän.
«Was? Wieso hat mich niemand informiert?»
«Wir hatten gerade mit grösseren Problemen zu kämpfen.»
«Wie sollen wir das den Gästen erklären und was können wir tun, um nicht zu sterben?»
«Versuchen sie die Gäste zu beruhigen und wir arbeiten an dem zweiten Problem.»
Die Purserette dreht sich um und eilt aus der Tür hinaus. «Was soll ich den Gästen nur sagen? Wie erkläre ich ihnen, dass wir heute alle sterben könnten?», denkt sie. Ihre Hände zittern, als sie zum Mikrofon greift, um eine Durchsage zu machen. «Liebe Passagiere, wir haben ein kleines Problem – oder besser gesagt, ein großes. Die Triebwerke sind beschädigt und außer Betrieb. Der Kapitän kümmert sich gerade darum und bittet Sie, ruhig zu bleiben.»
Mit schnellen Schritten geht sie zur Toilettentür, öffnet sie und schlägt sie mit einem Knall wieder zu. Auf dem Deckel kauernd, die Hände über dem Kopf, flüstert sie: «Es wird alles gut. Sie werden es regeln. Aber was, was wenn nicht? Was sollen meine Kinder ohne mich machen, Robert wird sich sicherlich nicht um sie kümmern. Denk nicht daran, du musst jetzt rausgehen und alles regeln.»
Sie rappelt sich auf und tritt aus der Toilette. Im Tower hört man den Funker fragen: «Wir haben das Signal der Boeing 737 nach Malta schon wieder verloren. Was sollen wir jetzt tun?» Der andere Funker antwortet zögerlich: «Es bleibt uns nur, zu hoffen, dass sie den nächsten Tower kontaktiert haben.»
Und er hofft: «Bitte, Bitte, lass alles in Ordnung sein. Vielleicht sind sie nur vom Kurs abgekommen oder haben zu früh den nächsten Tower kontaktiert.»
Das Flugzeug sinkt weiterhin, immer schneller, bis die Wellen des Meeres deutlich sichtbar werden. In der Kabine versuchen die Flugbegleiter verzweifelt, die Panik unter den Passagieren zu lindern. Eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm bahnt sich ihren Weg zur Purserette. «Was genau ist passiert? Kann man helfen? Was sollen wir tun?» fragt sie.
«Setzen Sie sich bitte wieder hin und bleiben Sie ruhig», antwortet die Purserette.
Langsam ging die Mutter zurück zu ihrem Platz und schnallt ihr Kind auf den Sitz neben sich an. «Alles wird gut, mein Schatz. Wenn wir wieder zuhause sind, kannst du allen erzählen, was wir erlebt haben», sagt sie. Doch sie weiss genau, dass es keine gute Lüge ist, doch ihr ist nichts Besseres eingefallen. Auch sie selbst ist alles andere als sicher.
Der Kapitän und Nele schauen sich hilflos an. Der Kapitän sagt leise: « Es war eine Ehre mit ihnen zu fliegen.» Nele schaut ihn traurig an und erwidert das Kompliment.
Das Meer wird immer größer, und die Zeit scheint zu schrumpfen. Schließlich schnallen sich die meisten Passagiere wieder an und klammern sich an ihre Liebsten. Eine Dame nimmt die Hand ihres Mannes und drückt sie fest an sich, das Gesicht von Angst und Reue gezeichnet. Die Lichter sind längst ausgegangen, und in den letzten Momenten fühlt es sich alles ruhig und friedlich an.
«Ich habe so viele Chancen verpasst», denkt sie und küsst die Hand ihres Mannes.
«Ich bin zu jung, um zu sterben», denkt der eine.
«Nein, nicht Heute, ich habe mein Testament noch nicht fertig gestellt», denkt der andere.
Und dann wird alles schwarz.